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Redundanz und Form

Als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte


Der Begriff ‚Redundanz‘ ist negativ besetzt und gilt umgangssprachlich als Synonym für Redseligkeit. Wie so oft bei der umgangssprachlichen Übernahme fachspezifischer Begriffe ist es hier zu einer Verlagerung der ursprünglichen Bedeutung gekommen. Redundanz bedeutet in der Informationstheorie, wo der Begriff herrührt, nichts anderes als einen Information-Überfluß durch z.B. eigentlich nicht notwendige Doppelung. Diese Definition scheint der umgangssprachlichen Benutzung zunächst recht zu geben. In Kommunikationssystemen wie z. B. der digitalen Datenübertragung versucht man zunächst naheliegenderweise, die Information so schlank wie möglich zu halten. Bei jeder Datenübertragung treten jedoch Fehler auf, sie können beim Sender, bei der Übertragung selbst oder beim Empfänger liegen. Je schlanker eine Information übertragen wird, umso gravierender ist die Wirkung etwaiger Fehler. (Es gilt in der Kybernetik übrigens auch ein anderer Grundsatz: Ein System ist umso stabiler, je mehr Toleranzen es zuläßt. Das scheint für alle Systeme zu gelten, gleich ob sie physikalischer, biologischer, chemischer oder gesellschaftlicher Natur sind. Ein tolerantes System verdaut Fehler leichter als ein intolerantes.)
Wir wollen uns auf den Empfänger konzentrieren, der aus irgendeinem Grund fehlerhafte Daten bekommt, oder aber richtige Daten falsch bewertet. Bei einem Datensatz ohne Redundanz hat ein Fehler katastrophale Folgen.


Beobachten wir uns im täglichen Leben unter diesem Aspekt, so können wir feststellen, daß wir uns ständig redundant verhalten, um Irrtümer auszuschließen. Redundanz ist in der alltäglichen Kommunikation eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren von Verständigung und damit von Gemeinschaft. Was hat das nun mit unserem Gebiet, der Musik zu tun? Dazu folgende, ganz allgemeine These: Form in herausgehobenem Sinne ist definiert durch Redundanz. Das gilt, wie gesagt ganz allgemein, also auch für die Dingwelt. Selbstverständlich hat alles physisch Existierende auch eine Form im Sinne von räumlicher und zeitlicher Ausdehnung. Wenn wir in der Kunst von Form sprechen, dann meinen wir diesen Begriff qualitativ; wir sagen dann damit, daß einem Volumen eine besondere, herausgehobene Gestalt eignet, der nichts Zufälliges anhaftet. Es mußte, um zu einem ästhetischen Objekt zu werden, die Information reduzieren. Das ist nur möglich durch Entsprechungen. Das heißt: Indem dieses Volumen oder dieser Körper gewisse Analogien oder Symmetrien ausgebildet hat, sind wir in der Lage seine Informationsmenge zu reduzieren und formale Zuordnungen zu treffen. Eine zufällige Figur beinhaltet mehr Information als ein Quadrat, das Quadrat hat sehr wenig Information, besitzt aber eine Form im Sinne einer herausgehobenen Gestalt, die nun allerdings so übersichtlich ist, daß sie unser Interesse nicht lange fesseln kann. Ganz allgemein läßt sich sagen: Form entsteht durch Entsprechungen, Analogien, Analogie aber bedeutet Redundanz. Beispiele ließen sich nun zur Verdeutlichung anführen: Ein Kristall hat eine redundantere Form verglichen mit dem nichtkristallinen Zustand des Materials. Biologische Formen sind redundant, indem sie Symmetrien ausbilden, mögen es Blütenblätter sein oder Körperhälften, es scheint geradezu eine Strategie der Natur zu sein, so zu verfahren, oder sie sind gar rekursiv, d.h. sie wiederholen sich im Mikrobereich (Korallen, Blumenkohl, Fichte.... )


In der Architektur sind Analogiebildungen und Symmetrien (als Sonderfall der Analogien) Jahrtausende alte Strategien der Gestaltung, von der Pyramide und dem Tempel angefangen, über Kathedrale, Schloß und Rathaus. Die Musik ist in ihrer Geschichte mehrfach der Architektur nachgegangen und so findet sich durch die Jahrhunderte das Spiel mit der Analogie, teil als Bestätigung, teils als Bruch. Die Themen- und Motivwiederholung, die thematische Arbeit, die Sequenz, die dreiteilige Form im Lied oder in der klassischen Sonatenform, der Kanon, wohin man hört, man begegnet Analogien, Entsprechungen, die mehr oder minder deutlich zutage treten. Das geht durch die Jahrhunderte. Die Qualität des Komponierens mißt sich geradezu daran, wie phantasievoll mit diesem Prinzip umgegangen wird, denn das Spiel mit der Redundanz, und um nichts anderes handelt es sich, ist für den Komponisten ein Gang auf des Messers Schneide. Auf der einen Seite ist die Analogiebildung ein Mittel zur Form- und Gestaltbildung, aber nichts ist öder als zu häufige Wiederholung wie z.B. ein totgerittenes Thema oder als ständige Sequenziererei, mag sie im Meistersingervorspiel passieren oder einem Telemann unterlaufen. Zum Sequenzieren ist zu sagen, daß dieses Verfahren seine Berechtigung und Wirkung aus der Tonalität herleitet. Mit der Auflösung der Tonalität werden auch die mit der Tonalität verbundenen Verfahren unsinnig  und obsolet. In der atonalen Phase Arnold Schönbergs finden sich bereits asymmetische Formen und durch die Postulierung der Dodekaphonie und dem aus dieser herrührenden Wiederholungstabu werden Analogiebildungen schließlich geächtet. Allerdings hat  sich Schönberg selbst bald nicht mehr an das Tabu gehalten, und es treten wieder symmetrische (redundante) Formen bei ihm auf.


Auch bei anderen Komponisten der ersten Hälfte unseres Jahrhundert lebt die Analogie weiter. Ungebrochen bei der Group des Six in Frankreich, geistreich gebrochen bei Strawinski. Obwohl sich auch bei Anton Webern Analogiebildungen finden, geht er am weitesten in der Kongruenz von Material und Form, indem er weitgehend auf tonalitätsbezogene Formmodelle und Verfahren verzichtet. Schließlich der zweite radikale Schub in diesem Jahrhundert, gleich aus zwei Richtungen: Die serielle Kompositionstechnik und das Prinzip Zufall, beides Angriffe auf die gestaltbildende Redundanz. In der Serialität wird  durch ein Beziehungsgeflecht der Konstruktion von einer hörend nicht auflösbaren Komplexion ein Resultat erreicht, das vom Zufall gesteuert erscheint. Bei Cage konstatieren wir das Fehlen jeder Symmetrie durch die bewußte Einführung des Zufalls als generatives Prinzip, die Isolation der Klangereignisse durch Vermeidung jeglicher Bindungskräfte und durch die Agrammatik der Form. Das hörpsychologisch Interessante ist nun aber, daß wir, wenn wir diese Musik hören, pausenlos nach dem Kitt der Beziehungen, letztlich nach Analogien suchen, indem wir die Ellipsen auffüllen. Wir sind nun einmal dazu verurteilt ständig nach Möglichkeiten der Datenreduktion zu streben, das ist ein Teil der Arbeit "Verstehen". Das ist auch unsere Überlebensstrategie, die den Anthropoiden zum homo sapiens sapiens hat werden lassen. Sowohl die Serialistik wie auch John Cage gehören heute schon der Geschichte an, und das Problem des Umgangs mit Redundanz stellt sich wieder neu. Und es ist so alt, wie es Musik und Kunst überhaupt gibt. Die Odysse lesend, stellen wir ein Netz von sprachlichen Analogien fest, die über das Werk geworfen sind. Zur Erinnerung: Es handelt sich um Vortrags-Dichtung epischer Breite, deren Bestimmung es war, rezitiert zu werden; um so wichtiger war es, dem Zuhörer formale Klammern anzubieten. "Als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte", "der listenreiche Odysseus", "der weitreichende Bogen", u. viele andere stereotyp wiederkehrende Formeln halten das Riesenwerk zusammen, verklammern die Teile miteinander. Das ist Redundanz als Mittel der formalen Gestaltung und Rezeptionshilfe. Der gegenwärtige Zeitgeschmack, so wie er sich in den vom Musikjournalismus heilig gesprochenen Partituren äußert, hat eine geradezu hypertrophe Abneigung gegen zu deutlich gesetzte Analogien. Wir Komponisten haben diese Phobie verinnerlicht und vollführen ständig Gratwanderungen zwischen amorphen Strukturen und deutlicher herausgearbeiteten Formen, nicht immer gelingt dies zum Vorteil für die Neue Musik und deren Akzeptanz.



(1995) 

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