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Paraphrasen über Religion & Musik

Das frömmelnde Klima meiner schlesischen Heimat verleitete mich als  Kind zu dem Wunsch, Missionar zu werden. Hitlers glorreiche Feldzüge kosteten mich meine Heimat und katapultierten mich aus der erzkatholischen Grafschaft Glatz in das antireligiöse Klima der nachmaligen DDR. So habe ich Manipulationen von verschiedener Seite erfahren, die in mir eine tief sitzende Skepsis gegenüber allen ideologischen Systemen erzeugten. Ich glaube, dass ich nichts glaube. Dass diese Epimenides-Paradoxie nach dem Wahrheitskriterium unentscheidbar ist, scheint mir für mein Verhalten gegenüber Religionen bezeichnend. Denn der Schauer des Erhabenen, den man bei einiger Naivität leicht für den Hauch des Weltgeistes halten kann, ist mir nicht fremd. Indessen habe ich ihn nach meiner Kindheit nicht mehr in religiöser Übung erfahren, sondern nur noch im Angesicht von Natur und beim Hören von Musik. Wer ist niemals  erschrocken bei dem Gedanken, dass nie eine gleiche Welle an einem Ufer war, keine Schneeflocke einer anderen gleicht?


Am Anfang von Religion und Philosophie steht das Entsetzen. Das Entsetzen vor dem "Danach" und die Frage nach dem "Warum" hat zu allen Zeiten und in allen Kulturen zu Versuchen der Welterklärung geführt. Keine Kultur konnte sich bis heute damit abfinden, dass der Tod die Finis ist, dass danach nicht DAS NICHTS kommt, sondern furchtbarer, dass danach nichts ist. Daher die Steinkisten, Mastabas, Pyramiden, Stupas, Mausoleen, die sich pompös auflehnenden Grabmäler der Südländer ebenso wie unsere schlichteren Friedhöfe, die Klagelieder, die Totenmessen. Die Schrift auf dem Monument verleiht dem Stein ein Gesicht, holt den Verblichenen aus der Anonymität, will seine Fortexistenz im Bewußtsein der Nachwelt versprechen. Die Schrift überdauert. Die Keilschrift-Tafeln der Assyrer werden für den Kundigen noch lesbar sein, wenn alle anderen Informationsträger im Müllhaufen der Geschichte verschwunden sein werden.


Mit der zunehmenden Selbst-Domestizierung des Menschen entstehen Normen des Zusammenlebens, die nur durch die Drohung aus dem Jenseits eingehalten werden. Im Mittleren Reich Ägyptens taucht die Darstellung des Totengerichts auf: Anubis wiegt die Herzen der Toten, Osiris richtet nach Maßgabe des Befundes, Thot als Gott der Schrift führt Buch. Vielleicht erstmalig tritt hier die Dualität von Schuld und Sühne in das Bewusstsein. Voraussetzung dafür ist eine neue Sensibilität für ein Leben nach moralischen Normen und die Bewertung ihrer Einhaltung, zuallererst aber die Annahme der Unsterblichkeit der Seele und die Existenz einer göttlichen Instanz, die richtend über allen thront. Das ägyptische Totengericht zählt zu den fundamentalen Ideen der Menschheit. So sind Thot und Anubis Zeichen für die Unsterblichkeit und für das Verlöschen. Die Waage ist Symbol der Rechtsprechung, der Gerechtigkeit, auf der Schale liegt das Herz, das am Nil für den Sitz des Ichs galt, weswegen es auch zum Symbol der Barmherzigkeit werden konnte. "Ich habe Tränen abgewischt, ich habe den Hungernden Brot gegeben und dem Durstigen Wasser.


Der Gedanke der Caritas, der Mitverantwortung für den Nächsten war neu und ging über das Alte  Testament und das Neue Testament in das Christentum ein, es wurde von Mohammed mit Gebotscharakter auch in den Koran übernommen. Dies gilt es hervorzuheben, denn die klassische Antike kannte die Sorge für die Armen als ethisches Gebot nicht. Die sinkende  Waagschale des Anubis zeigt ins Nichts, das man sich in einer Unterwelt dachte. Das Christentum geht noch einen Schritt über die ägyptische Religion hinaus. Für Apostel Paulus ist nicht die Furcht vor dem Gottesgericht die Triebfeder der Caritas sondern das Gewissen. Der Antrieb zum Gutestun wird in den Menschen hineinverlegt und demnach ins Positive verkehrt.


Bereits im Alten Reich Ägyptens zeigen uns bildliche Darstellungen die Verwendung der Musik im Kult, besonders im Totenkult. Wir dürfen  vermuten, die Aufgabe der kanonisierten Musik war die Unterstützung der ritualisierten Klage und die Vergottung des Pharao. “Hohe” Musik war immer auch ein Herrschaftsinstrument und mehr oder weniger elitär abgegrenzt von der Umgangsmusik des Volkes. Der gesellschaftlich niedere Rang der Spielleute im Mittelalter spricht eine deutliche Sprache von der Hegemonie komponierter Musik, die sich im Schoße der Kirche entfaltete, argwöhnisch gehütet vor ausufernden Neuerungen, gegen die auch schon einmal ein Konzil einberufen werden konnte. Es gilt hier auf die Selbstverständlichkeit hinzuweisen, dass der Kirchenraum im Mittelalter der einzige Ort war, wo das einfache Volk komponierter Musik und “hoher Kunst” überhaupt begegnen konnte. Die Wirkung der liturgischen Zeremonie muss eine ungeheure gewesen sein.


Für mich war das katholische sonntägliche Hochamt, waren die feierlichen Messen, da in meinem Elternhaus keine Musik von Belang gehört wurde, die stärkste musikalische Erfahrung meiner Kindheit, die mich zur Musik gebracht hat. Auch die Protestanten erkannten nach anfänglicher musikalischer Bilderstürmerei, dass sich außer dem sozialisierenden Gemeindegesang weiterer Honig aus dem Füllhorn der Cäcilie saugen ließ. Dieser glücklichen Einsicht verdanken wir schließlich das Bach’sche Kantatenwerk. Restriktionen der Kirche, Verdikte und Konzile haben die Entwicklung der Musik in ihrem eigenen Schoße nicht verhindern können, letzten Endes auch nicht wollen. Zum einen galt es, ihr Faszinosum zu erhalten und auszubauen - als Machtinstrument aber auch als geistigen Ort der Zerstreuung ihrer nicht nur kirchenfürstlichen Liebhaber.


Der große Entwicklungsschub allerdings ging von der Freisetzung der Komponisten in der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft aus, mit dem Aufkommen des Warencharakters der Musik. Damit war die Bindung nicht nur an den Kult entfallen, sondern viel gravierender, an ein ideelles System. So wie aus der Ikone das Bild wurde, aus dem Symbol das Artefakt mit Warencharakter,  hat sich die Musik der Aufgabe entledigt, Transportmittel für religiöse Inhalte zu sein. Indem Musik sich nun selbst ihre  Normen setzte, war sie ihrer Selbstdefinition ausgeliefert. Vor diesem  Hintergrund ist heute ein weltumspannender Synkretismus entstanden, da die Stelle einer beherrschenden stilprägender Ideologie verwaist ist. Im gesellschaftlichen System des Realsozialismus  ist versucht worden, der Musik und der Kunst ganz allgemein noch einmal eine zentrale ideologische Botschaft aufzuerlegen. Es ist ihr nicht gut bekommen. Nur im Widerstand gegen diese Bürde konnte überlebensfähige Kunst entstehen.


Musik und Religion ist gemeinsam das Evozieren emotionaler Ergriffenheit. Ähnliches ließe sich auch von den anderen Künsten sagen, jedoch kann Musik infolge des kultischen Aspekts ihrer Reproduktion und ihres Einwirkens über eine längere Zeitdauer von besonderer hypnotischer Wirkung sein. Der konzertierende Künstler, ganz gleich welchen Genres, hat immer noch etwas vom Schamanen, Exorzisten. Zur Faszination trägt sein Ausgeliefertsein bei, die Möglichkeit des Scheiterns, Versagens ist immer gegeben.


Infolge des Schwindens der Religionen in den Wohlstandsgesellschaften ist ein spirituelles Vakuum entstanden, das neben der Esoterik von der Musik besetzt wird. Massen-Musik wird als Religionsersatz vom Markt ideologisch aufgerüstet, insbesondere ist der Kult um die Stars ist in der U- und Rockmusik ein wirksames Mittel der Musikvermarktung. Souvenirstücke sind an die Stelle der alten religiösen Devotionalien getreten. Die ekstatische  Entrückung bei Massenevents ist religiöser Hysterie vergleichbar, die Verehrung der Stars gleicht mittelalterlicher Heiligenanbetung. Da wabert dann auch Weltmusik direkt aus dem Schoße von Gaia, und New Age verklebt nicht nur die Gehörgange sondern auch die Ganglien indem Musik zum Fetisch wird und den Blick auf ihren Warencharakter verstellt. Die Unterhaltungsindustrie stößt mit Vehemenz in alle säkularisierten Räume, in das vom Glaubensverzicht hinterlassene Vakuum. Weil Töne semantisch indifferent sind, kann Musik jede Textierung transportieren, unabhängig von ihrem ideologischen Gehalt, aber auch untextierte Musik ist machtlos gegenüber mißbräuchlicher Verwendung. Die Indienstnahme von Musik durch Kulte, Ideologien ist ihr unverschuldetes Schicksal. Es sei daran erinnert, dass im 2. Weltkrieg junge deutsche Männer durch  beethovensche Musik zu Schlächtern konditioniert werden sollten. Es gibt Filmaufnahmen vom Fahneneid auf den Führer mit der Eroica. So wurde humanistisches Pathos mühelos in sein Gegenteil umfunktioniert. Von Richard Wagner reden wir hier besser gar nicht. Mit webernscher Musik wäre das, da ihr jegliches Pathos abgeht, nicht möglich gewesen. Einzig eine Musik, die sich nicht funktionalisieren läßt, ist vor Missbrauch sicher. Um sich davor zu schützen, muss der Komponist sich in den Elfenbeinturm einer musica negativa  zurückziehen. Das hat er getan, und da sitzt er nun.


Ohne behaupten zu wollen, dass die Rock- und Popmusik keine Ideologie habe, kann man sagen, die eigentliche Ideologie der Pop/Rockmusik ist der Markt, sind seine Strategien. Die Neue Musik ist als Gegenstand philosophischer und soziologischer Spekulation in einem grundsätzlicheren Sinne ideologisch bestimmt, schon als Mittel der  eigenen Absicherung in einem ihr eher feindlich gesinnten gesellschaftlichen Umfeld. Der vom Musikbetrieb geforderte Individualismus verlangt dem Komponisten Positionsbestimmungen ab. Wie auf dem Verbrauchermarkt muss er hartnäckig sein einmal gefundenes Markenzeichen bis zum Selbstzitat verteidigen und verbal  interpretieren. Die Konkurrenz zu seinen Kollegen zwingt ihn zur Abgrenzung. Das ist nicht neu. Schon Gesualdo da Venosa war  nicht zimperlich, wenn es um Kollegenschelte ging.

Da es in Zukunft in den Wohlstandsgesellschaften keine gesellschaftlich bestimmenden religiösen oder philosphischen Systeme mehr geben wird, und vor den ideologischen gleich welcher Couleur bewahre uns der Himmel, ist der Stilpluralismus, auch der Synkretismus der Musik, ja, der gesamten Kultur die zwangsläufige Folge. Auch wird die Spiritualität der Musik zunehmend auf ihren artifiziellen Aspekt reduziert, denn ethisch oder politisch engagierte Musik erzeugt beim skeptischen und alles relativierenden  Wohlstandsbürger nur einen "goût mauvais". In der durch Geld normierten Überflussgesellschaft sind moralische Maßstäbe schlecht verkäuflich. Da Normen jedweder Art drohen verloren zu gehen, muss Musik in einer fast religiös verstandenen Behauptung ihrer Kunsthöhe eine Insel bilden, einen quasi kategorischen Imperativ der Wertkriterien.


Nach Hegel ist die Philosophie die Vollendung der Künste und wird diese ablösen. So wären in der Philosophie als der rationalen Form der Religion beide dialektisch aufgehoben, Religion und Musik. Das mag allerdings glauben, wer will.


(2001)


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