Grau ist alle Theorie
Vom Wert und Unwert der Systeme
"Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“, läßt Goethe in der Studierstube den Mephisto zum Schüler sagen, "und grün des Lebens goldner Baum". Mit dem unsinnigen und logisch falschen zweiten Halbsatz wird auch die Aussage des ersten Halbsatzes fraglich. Mephisto als Geist, der stets verneint, macht eine falsche Aussage im Stil von billigblumiger Poesie. Goethe läßt uns im Unklaren. Als Theoretiker, Wissenschaftler wird er die theoriefeindliche Einstellung kritisieren, wie dies Kant vor ihm getan hatte, als Praktiker, der er auch war, wird er Mephistos Diktum wohl eine gewisse Gültigkeit zugebilligt haben. Wenn man von Theorie der Musik spricht, denkt man zunächst an die Regeln der Verknüpfung von Tönen, anders gesagt, das Setzen von Intervallen in zeitlicher Ordnung mit dem Ziel der Schaffung einer musikalischen Form, von der einfachen Zelle bis zum ganzen Organismus. Selbstverständlich gehören weitere Teilbereiche dazu, Formenlehre, Instrumentation, Psychoakustik, Ästhetik....
In der traditionellen europäischen Ausbildung gehört der Theorie der Verknüpfungen, im allgemeinen als DIE Theorie verstanden, das Schwergewicht in der Ausbildung zum Komponisten. So bieten zum Beispiel die Regeln der Harmonielehren und die der verschiedenen Kontrapunktlehren, wie auch die Dodekaphonie und die Serialistik dem Komponisten nicht nur das Handwerkzeug seiner Arbeit sondern auch einen psychologischen Schutz. Absolute Freiheit ist schwer zu ertragen und vielen scheint sie auch nicht gut zu bekommen. Ich erinnere mich, als ich begann, bewußt zu komponieren, der quälenden Fragen vor dem Setzen jedes einzelnen Tones: Warum gerade dieser Ton in dieser Länge, in diesem Instrument, in dieser Lautstärke usw., Überlegungen, die jede Kreativität lähmen können. Eine Theorie nimmt dem Komponisten einen guten Teil dieser Verantwortung ab, seien es zunächst die Harmonielehre oder der Kontrapunkt. Ebenso auch die Dodekaphonie, die Serialistik und alle anderen Verfahren der kompositionellen Vorordnungen, indem sie bei Einhaltung, übrigens pleonastisch, stets für "Richtigkeit" bürgen, da es ja in Musik ein logisches "falsch" nicht gibt. Auch das dazu gehörende Gegenbild, das konsequente Zufallsverfahren, wie es John Cages Manipulationen mit dem Buch I-Ching, dem Würfel (alea) oder anderen Zufallsprozeduren ausgebildet hat, nimmt dem Komponisten die Bürde ab, sich mit jedem Tonereignis auseinandersetzen zu müssen. Insofern ist z. B. die Dodekaphonie m.E. ein ausgezeichnetes pädagogisches Mittel, weil hier die Theorie immer schon einen Vorschlag für den nächsten Schritt bereit hält.
Ich selbst habe nur wenige Stücke dodekaphoner oder serialistischer Art geschrieben und fast alles davon vernichtet, als ich erkannte, daß diese Verfahren meiner Anschauung von Musik nicht entsprechen. Entscheidend hierfür war der "ungriffigste" Bereich der Musiktheorie, die Ästhetik. Für die Abwendung von den präformierenden Verfahren war entscheidend die strukturelle Nähe zu totalitären Systemen.
Mir hat sich bei der seriellen Kompositionsweise immer der Vergleich mit einer total verwalteten Gesellschaft aufgezwungen. (Übrigens habe ich damals weniger an die DDR gedacht als an das Naziregime.) Musik war für mich immer etwas Organisches, im Entstehen dem Wachsen einer Pflanze vergleichbar, die "weiß", was aus ihr werden soll. Keine Fichte gleicht der anderen im Detail, aber aus einem Fichtensamen kann keine Birke wachsen. Also müßte man dem musikalischen Keim nachspüren, was aus ihm sprießen will, in seinen Genen, gewissermaßen, müßte die Gattung erkennbar sein, aus dem das Individuum entstehen kann. Gleichzeitig hatte ich den Wert einer Theorie kennengelernt als kreatives Hilfsmittel und psychologische Krücke. Ich müßte also etwas finden, das zwischen Freiheit und Bindung stand, etwas das einen festen Kern hatte und gleichzeitig die Möglichkeiten des organischen Wachsens gewährte. So habe ich einige Jahre lang mit Tonhaufen gearbeitet, einer Zusammenstellung von Intervallen die in beliebiger Reihenfolge benutzt werden, verbraucht werden, um danach einer Transposition dieser Töne Platz zu machen. Zum Beispiel vier Töne in freier Anordnung, danach diese Töne in Transposition, wiederum in freier Anordnung, u.s.w.. Das für mich Anregende bestand in der Spannung von Freiheit und Bindung, indem nach dem "Verbrauch" der vier Töne das nächste Intervall frei zu wählen war. Es konnten auch Fünfer- und besonders natürlich Sechsergruppen von Tönen sein, besonders dann, wenn ihre Spiegelung die komplette 12-Tonskala ergab. So geisterte immer noch die Dodekaphonie durch meine Partituren. Beeinflußt wurde ich in der Auffassung vom organischen Wachsen auch durch meinem kurzzeitigen Lehrer Rudolf Wagner-Regeny. Obwohl ich in seinem Unterricht nicht besonders erfolgreich war, fiel sein Konzept von der "technischen Phantasie" bei mir auf fruchtbaren Boden. Gemeint war, man müsse einem musikalischen Einfall seine Möglichkeiten zur Entwicklung ablauschen. Das war Mitte der 50er Jahre und im Grunde nichts anderes als die Idee der "Formel"-Komposition Karl-Heinz Stockhausens. Irgendwann, in den 70er Jahren fiel mir der Expressionismus meiner Musik auf, der einen ihrer Gründe in der auffälligen Chromatik hatte. Zu viele steigende oder fallende Halbtöne nacheinander erinnerten an das spätromantisch-expressionistische Idiom mit seiner betonten Leittönigkeit. Das brachte mich dazu, nach neuen Modellen zu suchen.
Schon Anfang der 70er Jahre hatte ich ein (letztlich missglücktes) Orchesterstück geschrieben mit dem Titel "Baukasten". Ich wollte mit möglichst wenig Material auskommen und durch ständig neue Kombination der Elemente musikalischen Raum schaffen. Also entwickelte ich einen sehr dichten Orchestersatz von 10 Takten, der alles Material enthalten sollte. Durch wegretuschieren, "wegradieren" einzelner Elemente (durchpausen auf Transparentpapier) entstanden immer neue 10 Takte. Dieses Verfahren habe ich in klügeren Varianten später in mehreren Stücken angewendet Das Problem der Hochchromatik und des expressionistischen Gestus blieb davon unberührt und ich suchte nach neuen Intervallordnungen.
Es ging darum, die Intervallik zu spreizen, so daß Chromatik im allgemeinen vermieden wurde. So arbeitete ich mit quasi synthetischen Skalen, die in unterschiedlich weiten Schritten durch den Tonvorrat gehen und zwar erstmals in der Komposition "Sound-House" (1979). Bereits damals verwendete ich einen Modus, der sich über zwei Oktaven erstreckt. Mich interessierten bei diesem Verfahren besonders auch die Konsequenzen für die Harmonik. Mir schwebte eine Art von "atonaler Tonalität" vor. Zunächst waren meine Modi relativ einfach strukturiert, allerdings erstreckten sie sich, wie bereits erwähnt, über einen weiteren Ambitus als eine Oktave, in einem Fall sogar über die ganze Tastatur. Xenakis hat mit Modi ebenfalls gearbeitet, das wußte ich damals aber noch nicht. Es war allerdings von Anfang an klar, daß es sich nicht um ein geschlossenes System von der Art der Dodekaphonie oder der Serialistik handeln konnte, denn im Bereich der Tonhöhen sprengte die zunehmende Verwendung von Mikrointervallen jedes der bisherigen kompositions-theoretischen Denkmodelle, und die Nobilitierung des Geräuschs entmachtete jede Tonhöhen-bezogene Theorie. Es gibt keine "Einheitliche Feldtheorie" auf dem Gebiete der Musik mehr. Wir befinden uns im Zustand des fruchtbaren theoretischen Chaos. Die Dodekaphonie und die Serialistik waren die letzten Versuche der Schaffung eines verbindlichen Kompositionshandwerks. Das schließt nicht aus, daß Komponisten theoretische Nischen entdecken und sich dort einrichten, seien es arabische, indische, indonesische oder, wie für mich, synthetische Tonsysteme. Die beschriebene Art, mich in modalen Systemen zu bewegen, ist sowieso nur ein grober Rahmen. Nicht jeder einzelne Ton der Partitur läßt sich auf einen Modus zurückführen, die Vierteltöne, und erst die Geräusche finden darin, wie bereits erwähnt, sowieso keinen Platz. Die modalen Überlegungen stehen immer nur am Anfang einer Arbeit. Mit Beginn der Schreibarbeit treten die Tabellen mit den Modi dann eher in den Hintergrund.
Es ist zweifelhaft, ob es je wieder eine verbindliche Theorie geben kann. Im Gegenteil: Ich bin sicher, daß dies nicht mehr der Fall sein wird. So wie es keine Verbindlichkeiten in der Religion, der Philosophie und ihren Ersatzstücken mehr gibt und immer weniger geben wird, so kann es auch in den quasi abgeleiteten Funktionen, wie den Künsten, keine Verbindlichkeiten mehr geben. Die Zeit der Zünfte ist ein für alle Mal vorbei. Es muß nun jeder seine eigene Theorie suchen, die immer vorrangig ein individuelles Glaubensbekenntnis im Sinne der Ästhetik sein wird. Schwören wir den Systemen ab? Vorsicht! Immerhin hat ein System wie die Serialistik zu der Erfindung von Strukturen geführt, die ohne die Absicherung durch eine Theorie schwierig zu behaupten gewesen wären. Auch hat die Reibung an diesem strikten Modell zu anderen Lösungen geführt, wie z. B. der Aleatorik, die ihrerseits, zusammen mit Einflüssen aus der Musique concrete und der Poesie sonore u.s.w. zur Geräuschkomposition geführt hat. So glaube ich zwar nicht an Theorien, finde sie aber unabdingbar. Es ist wie mit Utopien, die man nicht versuchen soll einzulösen.