En avant - où?
Mit einem Apfel fing alles an.
Die lawinenartige Zunahme des Wissens und des technologischen Know-how in den letzten Jahrzehnten entfacht bei der Mehrheit der Menschen, neben Staunen und Bewunderung auch, da sie an diesen Entwicklungen nicht entfernt verständig teilhaben können, Skepsis und Beunruhigung. Es wird jedoch von kaum jemandem die Berechtigung angezweifelt, die Neuerungen in Wissenschaft und Technik als Fortschritt zu bezeichnen.
Der Begriff wird immer unkritisch gebraucht und ist stets positiv besetzt, suggeriert er doch Höherentwicklungen, Verbesserungen in Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und spätestens seit Hegel und Marx auch in der Gesellschaft, dies unter linearen Gleichsetzungen: Neuerungen werden der Fortschritts-Bilanz quasi automatisch zugerechnet.
Das mag über Jahrtausende so stimmig gewesen sein und gilt im allgemeinen Sprachgebrauch noch heute. Dass ich nach einem Herzinfarkt noch am Leben bin, verdanke ich dem enormen (und ich zögere hier nicht zu sagen) Fortschritt, den die Medizin in den letzten Jahrzehnten genommen hat, wenn auch nicht vergessen werden darf, dass er zum großen Teil nur mit dem billigend in Kauf genommenen Leiden zahlloser Versuchs-Tiere erreicht wurde, dieses letztendlich entschuldbar gemacht durch die im Christentum angelegte Überheblichkeit des Menschen in seiner Sonderstellung in der Schöpfung, als deren Krönung und „Ebenbild Gottes“. Trotzdem wird kaum jemand der Entwicklung der Medizin das Anrecht auf den Fortschrittsbegriff absprechen wollen, weil alle Menschen von ihr profitieren (profitieren sollten, müssen wir leider einschränkend sagen). Das lässt sich so nicht bei allen Neuerungen konstatieren. Die Atomtechnik hat den Menschen nicht nur zweifelhafte Segnungen gebracht wie den billigen Atomstrom, billig allerdings nur unter Vernachlässigung der Folgekosten, auch stand am Anfang der Atomtechnik (selbstverständlich!) deren militärischer Einsatz, standen die Katastrophen von Hiroshima und Nagasaki, und es drohen nun späteren Generationen Katastrophen mit heiß gewordenem Atommüll oder vergiftetem Wasser.
Was uns von der Gentechnik droht, gepriesen als die den Hunger besiegende Brotvermehrung, das weiß noch niemand, denn einmal in der Welt können die Organismen aus der Retorte sich auf Wanderschaft begeben und leicht eine Eigendynamik entwickeln, damit die Menschheit vor unvorhersehbare Probleme stellend. Monsterwesen, Chimären als Hybride zwischen Mensch und Tier sind auf Grund des Geltungsdranges und der ungezügelten Neugier mancher Genetiker nicht auszuschließen.
Ähnlich Janusköpfig ist das Bild, das uns kritische Wissenschaftler warnend von der Nanotechnik vermitteln. Naheliegenderweise gilt: Je Wirkungs-mächtiger eine Neuerung ist, umso größer ist auch das in ihr schlummernde Negativpotential (das die Militärs und Machtstrategen immer besonders fasziniert).
Auch die Ingenieure in ihrem positiven Streben, das menschliche Leben so leicht und angenehm wie möglich zu gestalten, setzen Entwicklungen in Gang, die sich manchmal ins Gegenteil verkehren. Das Automobil, das Sichselbstbewegende machte den Traum des Menschen wahr, sich frei von seiner physischen Begrenztheit bewegen zu können, doch es ist zu einer Geißel geworden. Ganze Gesellschaften haben sich auf verheerende Weise seinem Diktat unterworfen, und die es noch nicht sind (weil noch nicht sein können), haben keinen anderen Wunsch als sich ebenfalls unter die Macht der Klima- und Ressourcenvernichter zu begeben. Die Gestehungskosten unserer mobilen Gesellschaft sind enorm. Das Auto, von dem wir abhängig gemacht worden sind, von dem wir alle uns genussvoll abhängig gemacht haben, wirkt zerstörerisch in so gut wie alle Lebensbereiche hinein: Zerstückelung der Landschaft durch ein immer dichteres Netz von Autobahnen, Zubringern, Schnellstraßen, während hässliche Wohnkolonien um die Städte herum entstehen, wiederum neue Verkehrswege erfordernd, dazu die nur mit dem Auto erreichbaren Betonwüsten der Einkaufsmärkte und Gewerbegebiete außerhalb der Ortschaften, die die Landschaft großflächig ruinieren; dazu gehört dann noch der zur Mobilität gezwungene Arbeitnehmer in oft langen Autofahrten zur weit entfernten Arbeitsstelle.
In den hochtechnisierten, wirtschaftlich florierenden Ländern hat die Versorgung der Bevölkerung ein hypertrophes Maß erreicht. Es sind flächendeckend Versorgungseinrichtungen entstanden vom etwas schäbigen Discounter bis zum gestylten Einkaufstempel. Wo gestern noch Wiese, Wald, Weide waren, stehen heute auf solidem Beton bodenfressend, landschaftsvernichtend die Einkaufs-Paradiese. Das ließ sich nach 1989 im Ostdeutschland eindrucksvoll miterleben, weil alles so schnell ging. Gehe ich durch eine solche Mall, was sich nicht immer vermeiden lässt, dann frage ich mich angesichts der mit Mode, Gadgets, Tand und Plunder vollgestopften Läden, wer braucht das alles, und was sind die Gestehungskosten? Das shoppende Publikum allerdings wird das alles immer noch unter Fortschritt, weil "konsumerfreundlich" verbuchen.
Unser westliches Denken ist stärker als in anderen Kulturen von der Annahme eines evolutionären Zeitpfeils geprägt. Wir glauben an eine lineare Entwicklung zu immer höheren wissenschaftlich, technischen Plateaus, von denen erwartet wird, sie mögen in gerader Linie hinführen zu auch höheren Lebens-Standards, gemeint vor allem Quantitativ: alles XXL. Dabei gilt die Erfahrung, dass, sobald die Grundbedürfnisse befriedigt sind, mehr Konsum nicht automatisch zu mehr Glück führt. Die Zufriedenheit auch in der Bescheidung zu suchen, wie von Henry David Thoreau vorgelebt, ist zwar der saturierten westlichen Welt nicht ohne weiteres vermittelbar, doch für die hoch entwickelten Industriestaaten wäre schon eine zumutbare Mäßigung ein großer Fortschritt, auch um der Dritten Welt eine Entwicklungsmöglichkeit einzuräumen.
Die Kommunikationstechnologie hat uns die Möglichkeit geistvoller Bereicherung unserer Freizeit gebracht, aber sie hat uns auch durch die Anwendung kapitalistischer Marktgesetze auf die Medien- und Informationspolitik eine wirkungsmächtige Maschinerie gigantischen Ausmaßes zur Verdummung beschert, und sie hat uns durchsichtig und manipulierbar gemacht. Es ist aber anders als in Goethes Zauberlehrling: Die Geister, die wir riefen, werden wir NICHT wieder los. Unzweifelhaft sind die enormen Leistungen von Wissenschaft und Technik seit der Erfindung des Faustkeils als Fortschritt zu bezeichnen, aber sie sind moralisch indifferent. Es ist keine Frage, dass in allen großen Erfindungen und Neuerungen ein humanitär zu nutzendes Potential steckt, aber in einer Welt der zügellosen Profitoptimierung als kapitalistischer Überlebensstrategie zeigen sie auch ihre hässlichen Kehrseiten, von den nicht endenden kriegerischen Auseinandersetzungen zum Zwecke der Ressourcensicherung für die Erste Welt gar nicht zu reden. Ebenso sind viele, um nicht zu sagen fast alle das Leben so bequem machenden Errungenschaften der Zivilisation, an denen freilich nur die Erste Welt teilhat, dabei, den Planeten zu ruinieren und unbewohnbar zu machen. Aber auch dafür gibt es schon Rezepte: Der Ehrgeiz und das Kokurrenzdenken treibt Forscher in Abseitigkeiten wie die Pläne von einer Kolonialisierung des Mondes und anderer Himmelskörper, um unter immensen Kosten ein paar seltene Erden o.Ä. zu holen und um vielleicht irgendwann ein paar Privilegierte auf planetare Dependencen zu schießen, wenn’s hier zu heiß wird. Was machen wir dann nur mit dem schäbigen Rest? Die wissenschaftlich-technische Leistung, die hinter der erfolgreichen Landung von "Curiosity" auf dem Mars steht, ist bewundernswert, man würde aber wünschen, dass der dahinterstehende Ehrgeiz der Wissenschaftler und Techniker sich auf dem DRITTEN Planeten seine Ziele suchte.
Unzweifelhaft ist, dass die ausgeklügelten Maschinen der industriellen Produktion für die körperlich arbeitenden Menschen eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen gebracht haben. Als Folge der fortlaufenden Technisierung werden aber auch ständig Tausende "freigesetzt", das heißt einem modernen Pauperismus anheim gegeben.
Lange, bis in die jüngste Neuzeit schien der wissenschaftlich/technologische Fortschritt (wenig hinterfragt) linear mit dem zivilisatorisch-humanitären Fortschritt verbunden. Von dieser Vorstellung müssen wir uns lösen. Der Fortschrittsbegriff sollte sich ausschließlich am Humanitären messen lassen.
Die größte Fatalität aber ist die Gleichsetzung von Fortschritt mit Wachstum und umgekehrt. Dabei ist die Studie zur Zukunft der Weltwirtschaft. "The Limits to Growth" bereits 1972 veröffentlicht worden, ohne allerdings zu einem Umdenken zu führen, und ohne dass Aussicht dazu bestünde. Durch sein Janusgesicht wie die dem Fortschritt abverlangte Forderung nach Wachstum entsteht die Fortschrittsfalle. So wie die Maus im Laufrad müssen wir immer en avant, vorwärts, sind in der Zwangsjacke des Weiter, Schneller, Höher, da uns das liberalistische System in seinen Klauen hält. Adam Smith hatte sich das sicherlich anders gedacht, als er den Mitbürgern riet, zuerst auf das eigene Wohlergehen zu schauen, die Masse der Wohlhabenden würde ja in summa eine wohlbestallte Gesellschaft ergeben. Nicht vorhersehen konnte oder wollte er, (Darwins schockierende, aber leider zutreffende Auslesetheorie kam erst ein Jahrhundert nach ihm), dass durch die Konkurrenz im kapitalistischen System aus einem vertretbarem Eigennutz ein brutaler Egoismus sich entwickeln würde.
Wissenschaft und Technologie besitzen eine Eigendynamik, die sich erklärt durch den menschlichen Charakter als homo sapiens und homo faber. Wissensdrang und Ehrgeiz treiben zu stetiger Innovation. Erkennen und Machen! Er ist ja auch homo ludens, auch der Spieltrieb (und der mögliche Gewinn) treibt ihn an. Das Erkunden der Machbarkeit erstreckt sich sowohl auf Dinge, die das Leben angenehm machen (sollen!) als auch auf Verderben bringende Kriegsmaschinen, wie sie seit Archimedes, Leonardo da Vinci, Oppenheimer…. mit viel Raffinesse entwickelt wurden und werden.
Das gegenwärtig faktisch einzige existierende Wirtschaftssystem, das kapitalistische, ist ökonomisch gesetzmäßig gezwungen ständig zu expandieren, und es verkauft uns diese seine Hypertrophie als Fortschritt. Dabei nimmt trotz steigenden Konsums (eben deswegen) die Lebensqualität immer weiter ab: Verschmutzung von Wasser und Luft, akustische Vermüllung, Zerstörung der Umwelt, Auflösung zwischenmenschlicher Beziehungen, skrupellose Bereicherung der großen und kleinen Tycoons, all das sind Folgen des Fetischs Wachstum. UND DAS EBEN IST DER FLUCH DER DEM FORTSCHRITT ANHAFTET, DASS ER IMMER IN WACHSTUM MÜNDEN SOLL UND MUSS.
Das im Grundsatz nicht notwendig auf Verbrauch angelegte sozialistische Wirtschaftsystem ist in Konkurenz mit dem kapitalistischen Verschleiß-System gescheitert, da es nicht möglich war, es demokratisch zu unterlegen und Alternativen zu einer verdinglichten Welt aufzuzeigen, in der Gargantuanismus zum Maß aller Dinge geworden ist. Damit ist die Chance auf absehbare Zeit vertan, eine Alternative zum gegenwärtigen Konsumismus aufzubauen. Das ist der eigentliche Unfall der Geschichte, für den immer die dann irgendwann unvermeidlich gewordene Mauer gehalten wird. Es gibt keine vernünftige Alternative zur Demokratie. Wenn sie aber unter die Macht von Lobbys und Banken gerät, dann kann sie ihren Anspruch, eine näherungsweise gerechte Ordnung zu sein, nicht einlösen. Ohne Steuerung und Kontrolle pervertiert der Markt. Als Kennziffer des Fortschritts sollte nur das Maß des individuellen Glücks, wie es in einer Gesellschaft sich verwirklichen lässt, gelten, nämlich: wie die Menschheit sich zum Sittlichen hin entwickelt, womit das ethisch-moralische Verhalten gegenüber Mitmensch, Tier und im umfassenden Sinne Natur gemeint ist, denn wirkliches Glück, das mehr ist als Konsum, entsteht durch Resonanz mit der Welt. Geben wir den Milliarden Hungernder endlich genug zu essen, oder starren wir gebannt zum Mars, wo ein kurioses Fahrzeug ein paar Spuren hinterlässt?
Mit dem Apfel fing alles an.
Da der Mensch einmal vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte, wurde er unaufhörlich vorwärts zu immer neuem Wissen getrieben, er hatte keine andere Wahl. Wissen war auch Macht und ist es noch immer. Wissen war Fortschritt, denn es ermöglichte Wachstum, in einer Zeit der permanenten Bedrohung durch Hunger eine unabdingbare Überlebensstrategie. Nun sind wir so gewachsen, dass die Erde aus allen Nähten platzt und wir wachsen immer noch weiter. Da aber Wachstum nicht unbegrenzt sein kann und wegen der begrenzten Ressourcen auf der Erde ohnehin nicht, führt der Fortschritt zu seinem, zu ihrem Ende, es sei denn, man koppelt den Begriff von dem des Wachstums ab und gibt ihm eine neue Wertigkeit.
Es wäre nun vielleicht noch zu fragen, wie es mit dem Fortschritt in den Künsten aussieht? Gibt es überhaupt Fortschritt in den Künsten? Woran wäre er festzumachen? Ist beispielsweise literale Dichtung höher zu bewerten als orale? Ist Homer schlechter als beispielsweise Joseph von Eichendorff? Man vergleiche:
"Als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte"
"Es war als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst"
Wunderbare Zeilen, dazwischen 3000 Jahre, aber hat sich da wo Fortschritt versteckt?
Schon die Fresken in den Häusern von Pompeji zeigen ein raffiniertes Umgehen mit der Raum-Perspektive. Diese illusionistische Mal-Technik wurde in der Folge wieder vergessen, besser: ersetzt durch die Bedeutsamkeitsperspektive, in der Renaissance wieder neu entdeckt, und dann in der Moderne willentlich aufgegeben zugunsten der Betonung der Flächtigkeit des Bildes. An welchem Punkt der Kurve setzen wir da mit einer Fortschrittsdikussion an? Und sind die Stiere in der Höhle von Altamira weniger schön als die von Picasso?
Und Architektur! Sind die Schöpfungen z. B. der Renaissance oder die Lehmbauten von Timbuktu durch die moderne Beton-Glas-Architektur ästhetisch überholt worden? Zeitfortgang, auch technologische Verbesserungen wie besseres Material, raffiniertere Technologien führen offenbar nicht automatisch zu ästhetischem "Fortschritt"! Es gibt in den Künsten Wechsel und Wandel, ohne dass man von Fortschritt sprechen könnte.
Und Musik? Im frühen Mittelalter vor der Erfindung der Notenschrift war die Musik, so können wir vermuten, heterophon oder einstimmig. Erst die Koordination der Stimmen durch Einführung der Dauernwerte in der Mensuralnotation machte komplexes mehrstimmiges polyphones Musizieren möglich, und das, vorangetrieben durch den Ehrgeiz der Komponisten mit immer höherer Komplexität und Differenziertheit. Das Mehrliniensystem und die Mensuralnotation haben der Kompositionstechnik einen enormen, den entscheidenden Entwicklungsschub verliehen und es fällt schwer, NICHT von Fortschritt zu sprechen, obwohl diese entscheidenden Erfindungen aus dem Schoß der christlichen Kirche, den Klöstern, eher der Kategorie Produktions-Mittel zuzurechnen sind als der der Ästhetik. Ein "technologischer Quantensprung" war es, der einen künstlerischen ermöglichte. Die weitere künstlerische Entwicklung bei ständigem kompositionstechnischem Wandel verlief nicht geradlinig sondern sowohl mit Höhepunkten als auch mit Brüchen, doch es wäre absurd, die Glanzpunkte der Musikgeschichte im Sinne eines Fortschritts gegeneinander aufzurechnen, z.B. Guillaume de Machaut gegen Claudio Monteverdi gegen Carl Philip Emmanuel Bach gegen Olivier Messiaen... Auf der Grundlage eines sich ständig ändernden Handwerks sind über fast tausend Jahre hinweg Meisterwerke entstanden, die sich jeder Fortschrittsdebatte entziehen. Die Kompositionslehren, Techniken als Grundlagen der kompositorischen Arbeit, also deren Produktionsinstrumente mögen sich am Begriff "Fortschritt" messen lassen, doch die mit deren Hilfe entstandenen Werke entziehen sich jedenfalls einer solchen Wertung. Wechsel und Wandel ja, Fortschritt nein, weil der Begriff irreführend, ein nicht zutreffendes Kriterium ist.
In den artes liberales war die Musik den quantifizierenden Künsten Arithmetik, Geometrie, Astronomie gleichgestellt. Das betraf zwar immer nur ihre spekulative Seite, nicht ihre praktische Ausübung, aber sie trägt noch immer das Erbe der rechnenden Nachbarn, was zu der weit verbreiteten Annahme geführt hat, Musik habe etwas mit Mathematik zu tun, (und sind doch die Zahlenspielereien nur infantiles Fingerrechnen!). Im Bewusstsein der Komponisten hat dies pauschal zu einer Phobie geführt, sich etwa dem Verdacht auszusetzen, unsystematisch, ohne strikte Systeme, ohne Abrakadabra zu komponieren. Und je stringenter das System um so "fortschrittlicher". Dass ein stringenteres System nicht notwendig "bessere" Musik hervorbringt lässt sich am Beispiel Schönbergs studieren. Die 1. Kammersinfonie (1906) oder der "Pierrot lunaire" (1912) sind gewiss nicht "schlechter" als die Kompositionen seiner Zwölftonphase.
Komponisten sind mehr oder weniger bewusst immer schon davon ausgegangen ihre Kompositionshandwerk sei höher entwickelt als das der vorangegangenen Epochen. Was in den Köpfen der Komponisten umging, ist durch Adorno ins Licht der öffentlichen Debatte gestoßen worden. Durch die Strawinsky-Schelte in der "Philosophie der Neuen Musik" ist eine Fortschrittsdiskussion in der Musik ausgelöst worden, durch die es seither die Kategorie der "Höhe des Komponierens“ gibt, als deren Maß die Komplexität und Differenziertheit einer Partitur gilt. Dem wäre erst einmal nicht grundsätzlich zu widersprechen. Jedoch handelt es sich bei der Skalierung nicht um eine nach oben offene Kurve, wenn der Sättigungsgrad der Komplexität erreicht ist, kippt die Kurve zurück. Derartige Umschlagspunkte hat es in der Musikgeschichte immer wieder gegeben. Wir haben vor nicht allzu langer Zeit einen solchen Perihel passiert.
Die geradezu erwissenschaftlichte, philosophisch hochgerüstete Kompositionsweise der seriellen Musik hat zu äußerst komplexen Strukturen und musikalischen Erfindungen geführt, die vielleicht ohne die psychologisch entlastende Theorie kein Komponist aufzuschreiben gewagt hätte. Mit dem Glasperlenspiel der seriellen Konstruktion sind hochartifizielle Werke entstanden, die Adressaten allerdings dabei oft hinter sich lassend. Es gab in dieser Periode aber auch Höhepunkte gelungener Synthese von Konstruktion und Sinnlichkeit wie in Werken von Jean Barraqué. Selbst da wo heute kaum noch seriell komponiert wird finden sich allenthalben darauf verweisende Denkmuster, so in der "ecriture", die lediglich noch das Schriftbild dieser Partituren kopiert. Wenn man vergisst, dass Musik einen Adressaten hat und wenn man allein die Komplexität und Differenziertheit als Maß zugrunde legte, dann müsste man sagen, dass der serialismo der Höhepunkt, das strukturell avancierteste, "fortschrittlichste" Konzept der Musikgeschichte war, womit nicht gesagt werden sollte, dass es ihre glücklichste Periode war. Damit war aber auch die Sättigung erreicht. Die Kurve zeigt seitdem wieder nach unten.
ie andere Kategorie an der die "Höhe der Komposition" gewöhnlich gemessen wird, ist die des Materials, womit im Wesentlichen die Beziehungen der Töne und deren Qualitäten gemeint sind. Die abendländische Musik hat sich stufenweise die Intervalle der Obertonskala als zulässige Zusammenklänge erschlossen. Waren in der Frühzeit einzig Quinte und Quarte als Konsonanzen akzeptiert, die Terz wurde erst später, vermutlich in England erobert, so erhielten Sekunde und Septime eine Sonderbehandlung, die dann im späten 19. Jahrhundert allmählich entfiel, wonach sich das Interesse auf die höheren Obertöne nämlich Vierteltöne und noch kleinere Intervalle richtete, um schließlich mit der Domestizierung des Geräuschs die Landnahme zu beenden. Zur weiteren Differenzierung haben dann noch die neuen Spielweisen der Instrumente (Tonqualitäten) beigetragen. Damit scheint der Weg der Materialentwicklung ausgeschritten. Im Zusammenhang mit dem Materialbegriff wird meist von Avanciertheit gesprochen, ein Begriff aus der Sprache der Militärs (avancer = vorrücken). Die Avantgarde, der, militärisch gesprochen, zum Tode bestimmte Voraustrupp der Armee, war ein Lieblingsbegriff der Moderne und besonders auch der musikalischen. Hans Magnus Enzensberger hat 1962 in einem brillanten Essay zur Avantgarde gefragt: Wo ist eigentlich vorn? Obwohl "Avanciertheit" definitorisch in der Nähe von "Fortschritt" liegt gibt es einen grundlegenden Unterschied: Erstere meint die Aktualität, letzterer die Geschichtlichkeit. Selbstverständlich kann das einzelne Werk sich mehr oder weniger avancierter Mittel bedienen, kann zeitgemäß sein oder sich einer Gestaltungsweise verpflichten, die man als überkommen, als altmodisch bezeichnet. Mit entsprechendem zeitlichem Abstand greifen allerdings andere Kriterien. Auf die Musikgeschichte, die von den Werken geschrieben wird, ist der Fortschrittsbegriff nicht anwendbar. Bachs Spätwerk fiel aus seiner Zeit, galt als zopfig und ist doch ein Gipfel.
Wenn wir den Fortschrittsbegriff für Musik ganz generell verwerfen, enthebt uns das auf elegante Weise der Schwierigkeit eines diesbezüglichen (wahrscheinlich überheblichen) Vergleichs mit anderen Musikkulturen der Welt, seien sie beheimatet im Orient, in Afrika, auf Java, oder in China. Die abendländische Musikkultur, basierend auf der Obertonreihe und dem Taktstrich, harmonisch und polyphon ist eben nur EINE Möglichkeit des epikuräischen Umgangs mit Schallwellen. Eine aggressive allerdings. Westen frisst Osten auf. Auch Süden.
Von Fortschritt kann man nur reden, wenn man die Produktionsbedingungen von Musik im Auge hat und das auch nur sehr bedingt. Komponieren war immer eine fast alchimistische Tätigkeit, das umfängliche Regelwerk nur durch lange Schulung erlernbar. Doch eine Revolution hat stattgefunden. Die Technik der digitalen Klangerzeugung hat eine Vielzahl von Geräten auf den Markt geworfen, die es jedermann ermöglichen, ohne jede Vorbildung Musik, oder was dafür gehalten wird, zu erzeugen. Die Demokratisierung hat (wie immer) einen Werteverfall mit sich gebracht, der in den Medien, im Radio und besonders im Fernsehen zu hören ist. Selbst in anspruchsvollen Filmproduktionen wird Musik aus der Retorte, gegen die an sich nichts einzuwenden ist, aber auf Ramsch-Niveau verwendet. Musik ohne Musiker, alles nur Samples, die Ohren beleidigendes Fake. Auch scheint Musik allein dem Hörvergnügen nicht mehr zu genügen, deshalb muss alles optisch, meist videomäßig überschrieben oder performed werden, oft zum Nachteil für die Musik, immer aber für das Hören selbst.
Ausgehend von der Fluxus-Bewegung und der Konzeptkunst in den Bildenden Künsten hat das konzeptuelle Denken mit einiger Verspätung auch die Musikproduktion erreicht. In dem Maße wie sich die Idee des Werkes vor seine Ausführung schiebt, büßt es an musikalischer Differenziertheit bis zur Nebensächlichkeit seiner Gestalt ein. Da wir uns geeinigt haben, nicht von Fortschritt in der Musik zu sprechen, werden wir hier auch das Wort Rückschritt vermeiden. Ein Konzeptkünstler hat neulich einen mit mir befreundeten Maler gefragt: Malen Sie immer noch mit der Quaste? Auf ähnliche Weise könnte ein Komponist der instrumentalen musique concrète einen Kollegen fragen: Verwenden Sie immer noch Terzen?
Der Quantenrechner soll einmal erlauben, gedachte Musik direkt in Klang umzusetzen. Ob wir uns darauf freuen dürfen? Wir werden dann vermutlich aus den Köpfen verkabelter Musikdenker noch mehr Dudelfunk hören dürfen. Das obskure Metier des Komponisten löst sich auf. Ein Epochen-Ende.
Im Zusammenhang mit den Künsten ist übrigens auch zu fragen, ob in einer der Schwestern der Musik, der Philosophie, "Fortschritt" auszumachen ist. Hegel gegen Kant? Heidegger gegen Sokrates? Platon gegen Derrida? Es kommen Zweifel auf. Und es gilt nach wie vor, obwohl abgedroschen, der bekannte Satz von Karl Marx: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an Sie zu verändern". Also warten wir noch ein bisschen!
Mit dem Fortschrittsgedanken verbindet sich die hegelianische Vorstellung einer teleologischen Richtung der Geschichte entsprechend dem Zeitpfeil. Zwar hat man tatsächlich das Gefühl, dass diese Welt auf die Finalis zusteuert, oder vielleicht wird es nur eine Semifinalis vor der Finalis (?), und da dürfen wir dann wenigstens sicher sein, dass wir nicht mehr von Fortschritt reden können.
En avant! En avant! Où?